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dpa-AFX: HINTERGRUND: 'Quadratur des Kreises' - Projekt soll Engpässe im Rhein beseitigen

KARLSRUHE/MAINZ (dpa-AFX) - Was im Großen an der Untiefe Jungferngrund im
Mittelrhein passiert, wird rund 160 Kilometer südlich in einer Halle in
Karlsruhe im Kleinen simuliert. Dort, bei der Bundesanstalt für Wasserbau (BAW),
ist die Flusspassage verkleinert nachgebaut. Das Modell soll dazu beitragen,
dass das seit Jahrzehnten geplante Mammutprojekt einer durchgehend größeren
Fahrrinnentiefe in dem Flusstal einmal bestmöglich umgesetzt wird - bestmöglich
für Schifffahrt und Natur, wie BAW-Leiter Christoph Heinzelmann erklärt.

Offiziell heißt das Vorhaben Abladeoptimierung der Fahrrinnen am
Mittelrhein. Der Bundesverkehrswegeplan 2030 stuft es als vordringlich ein. Es
soll Engpässe auf der viel befahrenen Wasserstraße Rhein zwischen
Industriezentren im deutschen Südwesten und Europas größtem Seehafen in
Rotterdam beseitigen. Das Projekt hat nach Meinung von Bundesverkehrsminister
Volker Wissing (FDP), der einst auch Verkehrsminister in Rheinland-Pfalz war,
eine "herausragende grenzüberschreitende Bedeutung".

Konzerne wie BASF haben schon eigene Maßnahmen ergriffen

In der Wirtschaft im Allgemeinen und der Binnenschifffahrt im Besonderen
stößt das Projekt erwartungsgemäß auf Zustimmung. "Die Engpassbeseitigung am
Rhein muss vorangetrieben werden, damit die Unternehmen nicht mehr jährliche
Zusatzkosten in Millionenhöhe tragen müssen", sagte der Hauptgeschäftsführer der
Landesvereinigung Unternehmerverbände (LVU) Rheinland-Pfalz, Karsten Tacke,
kürzlich. Großprojekte wie die Abladeoptimierung müssen nach Ansicht der LVU
aber schneller und unbürokratischer umgesetzt werden.

Involviert ist in das Projekt auch ein sogenannter Projektbeirat mit
Vertretern der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz. In Hessen plädieren das
Wirtschafts- und Umweltministerium dafür, das Projekt nachträglich in das
Genehmigungsbeschleunigungsgesetz des Bundes aufzunehmen. Das soll langwierige
Planungs- und Genehmigungsverfahren schneller machen. Mit Blick auf das
Nutzen-Kosten-Verhältnis des Rheinprojekts verwiesen die hessischen Ministerien
darauf, dass allein der durch das Niedrigwasser 2018 entstandene
volkswirtschaftliche Schaden bei fünf Milliarden Euro gelegen habe.

Beim Chemiekonzern BASF mit seinem Stammsitz in Ludwigshafen am Rhein
beliefen sich die finanziellen Auswirkungen des Niedrigwassers 2018 nach
Konzernangaben auf 250 Millionen Euro. Seitdem hat BASF auf
eigene Maßnahmen ergriffen. Es sei mit der Bundesanstalt für Gewässerkunde ein
digitales Frühwarnsystem für Niedrigwasser entstanden, die Zahl eingesetzter für
Niedrigwasser geeigneter Schiffe sei mehr als verdoppelt worden und es werde
verstärkt auf alternative Verkehrsträger wie die Bahn gesetzt.

Vorhaben ist bei Naturschützern umstritten

Dennoch werden laut BASF weiter 40 Prozent Transportvolumens per Schiff
abgewickelt. Durchschnittlich würden pro Tag 15 Binnenschiffe abgefertigt. Mit
Blick auf die sogenannte Abladeoptimierung Mittelrhein teilte BASF mit: "Leider
verzögert sich die Umsetzung dieses enorm wichtigen Projekts durch ein
langwieriges Genehmigungsverfahren und Personalmangel in den zuständigen
Behörden signifikant."

Verkehrsminister Wissing verweist auf die von ihm eingesetzte sogenannte
Beschleunigungskommission. Auch dank ihr sei eine breit angelegte
Stellenoffensive zur Verstärkung des Projektteams mit Ingenieuren und Technikern
erfolgt. Die Prozesse innerhalb des Projekts seien optimiert worden, "um den
hochkomplexen Fragen im Spannungsfeld zwischen Ökologie und Ökonomie bestmöglich
gerecht zu werden".

Bei Naturschützern ist das Vorhaben umstritten. Der Bund für Umwelt und
Naturschutz (BUND) befürchtet eine erhebliche Bedrohung vieler wichtiger
Lebensräume insbesondere an den Ufern. "Wir plädieren dafür, die geplanten
Finanzmittel für die Modernisierung der Schiffsflotte einzusetzen", sagte
Eckhard Genßmann, Vorsitzender der Kreisgruppe Mainz-Bingen.

Forschungsprojekt in Karlsruhe lief 2015 an

In einem Positionspapier des Naturschutzbundes (NABU) heißt es, eine größere
Abladetiefe fördere "übergroße Schiffseinheiten auf Kosten der kleineren, besser
flussangepassten Schiffe". Die Entwicklung des Rheins im Klimawandel werde
unzureichend berücksichtigt. "Insbesondere bei Niedrigwasserabflüssen wird das
Leben im Rhein noch stärker auf die Fahrrinne beschränkt", heißt es da. Die als
Lebensräume wichtigen Zonen mit flachem Wasser sowie Nebenläufe würden verstärkt
abgekoppelt oder gingen ganz verloren.

Auch damit so etwas nicht passiert, hat das Wasserstraßen- und
Schifffahrtsamt Rhein die BAW vor Jahren damit beauftragt, mit Forschung
Grundlagen für eine rechtssichere und die Interessen ausgleichende Planung zu
legen. Ende 2015 lief das Rhein-Projekt bei der BAW an, wie Andreas Schmidt,
Leiter der Abteilung Wasserbau Binnenbereich, erklärt. Mittlerweile arbeiten in
der BAW rund zehn Ingenieurinnen und Ingenieure anteilig an diesem Projekt.

Grob gesagt geht es um den Rheinabschnitt von Budenheim bei Mainz im Süden
bis St. Goar im Norden. Auf dem sind laut Wasserstraßen- und
Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) pro Jahr rund 50 000 Güterschiffe
(Stand: 2021) unterwegs, sie transportieren fast 60 Millionen Tonnen Ladung.
Prognosen sagen laut WSV für die kommenden Jahre einen Anstieg auf mehr als 75
Millionen Tonnen voraus.

Binnenschifffahrts-Verband spricht von "echtem Nadelöhr"

Allerdings beträgt dort die durchgängig garantierte Fahrrinnentiefe nur 1,90
Meter unter dem Gleichwertigen Wasserstand. Das ist ein Niedrigwasserstand, der
lediglich an rund 20 Tagen pro Jahr erreicht oder unterschritten wird. Stromauf-
und -abwärts sind es 2,10 Meter, also 20 Zentimeter mehr. Das klingt wenig, ist
aber bares Geld wert. Zusätzliche 20 Zentimeter an Wassertiefe ließen bis zu 200
Tonnen mehr Fracht pro Schiff zu, sagt Thorsten Hüsener vom Projektteam
Mittelrhein der BAW.

Der Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt mit Sitz in Duisburg
bezeichnet die limitierte Fahrrinnentiefe im Mittelrhein als "echtes Nadelöhr".
Wenn die Abladeoptimierung umgesetzt werde, würden Schiffstransporte auch bei
Niedrigwasser besser plan- und durchführbar. "Dies ist wichtig, da die
rohstoffintensiven Industriestandorte auf die verlässliche Belieferung durch die
Binnenschifffahrt angewiesen sind."

Schuld an der geringeren Fahrinnentiefe im Mittelrhein sind zahlreiche
Untiefen. Die sechs neuralgischsten fokussiert das Projekt der
Abladeoptimierung. Es sind der Jungferngrund, der in Karlsruhe nachgebaut wurde,
der Geisenrücken, das Lorcher und das Bacharacher Werth im felsigen, engen Tal
nördlich von Bingen sowie das Kemptener Fahrwasser und eine Stelle bei
Oestrich-Winkel im von Sand und Kies geprägten Rheinabschnitt im Rheingau.

Projektleiter: Es gibt nur individuelle Lösungen

Mit dem Großprojekt Abladeoptimierung Mittelrhein soll die Fahrrinnentiefe
auch hier auf durchgängig 2,10 Meter gebracht werden
- durch möglichst punktuelle und umweltschonende Eingriffe, die
gleichzeitig das Hochwasserschutz-Niveau nicht verschlechtern dürfen, wie Sven
Wurms, Leiter des Projekts bei der BAW erklärt. "Es gibt nur sehr individuelle
Lösungen", sagt Hüsener. "Kein Flussabschnitt gleicht dem anderen."

In Computermodellen und mit dem Rhein-Modell wird bei der BAW geschaut, wo
Sedimente von der Strömung in die Fahrrinne getragen und zum Problem werden
können. Dann wird geprüft, wie zum Beispiel eine höhere Strömungsgeschwindigkeit
und damit eine geringere Ablagerung von Sand und Kies erreicht oder der
Transport im Wasser gelenkt werden kann.

Denkbar sind die Errichtung von Buhnen, quer in den Fluss hineinragende
Bauwerke, längs zum Fluss verlaufende Bauwerke, Grundschwellen auf dem
Flussgrund oder die Verfüllung von Kolken, Vertiefungen im Flussgrund. Im
steinigen Rheinabschnitt wird auch punktuelles Abfräsen von Fels auf dem Grund
des Stroms nötig sein, bei Beachtung der Eigenschaften der jeweiligen
Gesteinsart, von weichem Tonschiefer bis zu harter Grauwacke.

Jungferngrund als besondere Herausforderung

Besonders knifflig ist die Lage am Jungferngrund bei Oberwesel, wie
Projektleiter Wurms sagt. Hier macht der Rhein eine 90-Grad-Kurve, Schiffe
brauchen für ihre Manöver eine recht breite Fahrrinne, die Strömungsverhältnisse
längs und quer zum Flussverlauf sind komplex, auch wegen der gleichnamigen
Kiesbank und einem Felseiland namens Tauber Werth.

Die Kiesbank als wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen darf bei
Veränderungen keinen Schaden nehmen. Es muss beachtet werden, dass der Nebenarm
zwischen der Kiesbank und dem rechten Rheinufer noch durchströmt wird, nicht
verlandet, wie Wurms erklärt. Alle möglichen Varianten werden dafür an dem
Rheinmodell im Maßstab 1:60 in der Länge und 1:50 in der Höhe nachgespielt.

Für das Modell wurde der Flussgrund mit all seinen Felsspalten und
-rippen aus 170 Betonkacheln exakt nachgebaut, bis das Modell voll
betriebsbereit war, verging ein Jahr. Statt Sediment wird hier
Kunststoffgranulat von der Modellströmung transportiert, in unterschiedlicher
Größe und mit unterschiedlicher Materialdichte in Rot, Weiß und Gelb. Denkbare
Wasserbauten werden maßstabsgetreu eingebaut und getestet.

Bundesanstalt soll auch evaluieren

Am besten schneidet nach jetzigen Erkenntnissen die Variante mit individuell
geformten Grundschwellen ab, wie Hüsener sagt. Mit ihr gelinge es
vergleichsweise gut, das Gros der Sedimente im Wasser weiterzutragen bis in den
Abschnitt nahe der weltberühmten Loreley mit Tiefen von bis zu 19 Metern und die
Auswirkungen auf die Umwelt gering zu halten.

Die Suche nach solchen viele Faktoren berücksichtigenden Lösungen sei fast
schon "die Quadratur des Kreises", sagt BAW-Chef Heinzelmann. Das lässt auch
verstehen, warum das Projekt noch viele Jahre dauern dürfte - nicht zuletzt auch
wegen der noch anstehenden und zeitraubenden Planfeststellungsverfahren. Das
Rheinmodell in Karlsruhe dürfte noch lange stehen, die BAW soll auch nach den
Bauarbeiten die ergriffenen Maßnahmen evaluieren./chs/DP/zb

--- Von Christian Schultz, dpa ---

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